Dieter Gross : Umwelterziehung und nachhaltige Entwicklung. Bestandsaufnahme und Umsetzungsmöglichkeiten der Vereinbarungen der agenda 21 in der Lehrplanentwicklung in Deutschland. |
in: Zeitschrift
für internationale Bildungsforschung und
Entwicklungspädagogik (ZEP),
21. Jahrgang, Heft 2 ,1998, ISSN 1434-4688, Stuttgart
Thema des Heftes: Bildung für eine
nachhaltige Entwicklung -
Umbruch in der Umweltbildung 6 Jahre nach Rio
Umwelterziehung und nachhaltige Entwicklung.
Die Sculbildung unterliegt in vielen Staaten einem
grundlegenden pädagogischen Reformprozeß, der durch das neue Leitbild einer 'Bildung zur nachhaltigen Entwicklung' (Education for Sustainable
Development, ESD) geprägt ist. Mit diesem Wandlungsprozeß sollen ein
"Wertewandel" herbeigeführt sowie Verhaltensmuster und Lebenseinstellungen
vermittelt werden, die zur Bewältigung lokaler und globaler Probleme erforderlich sind.
Bildung zur nachhaltigen Entwicklung ist kein eigenes Fach, sondern ein
Unterrichtsprinzip, gegründet auf systemisch - holistisches Denken sowie
verantwortungsbewußtes Handeln, wobei Wirtschaft - Gesellschaft - Umwelt untereinander zu
vernetzen und deren Teilaspekte jeweils ganzheitlich und in globaler Sicht zu betrachten
sind. Dieser Ansatz, sowohl fach- als auch fächer-übergreifend, reduziert nicht den
Stellenwert der Unterrichtsfächer, sondern macht vielmehr ihre anteiligen Beiträge
deutlich. Aus heutiger Sicht ist Umwelterziehung zwar eine wichtige Vorstufe der Bildung zur nachhaltigen Entwicklung', gleichwertig ist sie aber nicht. Umwelterziehung zielt darauf, Bewußtsein von ökonomischen, sozialen, politischen und ökologischen Interdependenzen im Raum zu entwickeln, um dem Einzelnen zu ermöglichen, Werte, Wissen, Verhaltensweisen, Engagement und Fertigkeiten zu erwerben, Umwelt zu schützen und zu verbessern. Das verlangt eine enge Verknüpfung verschiedener Dimensionen durch integrierendes Denken und verantwortungsbezogenes Handeln. Oft allerdings reduziert sich dies auf eine Art dog-matischen Environmentalismus, der an individuelles, umweltgerechtes Verhalten appelliert und in dessen Folge Reparaturen bzw. Beiträge in Richtung einer technologieorientierten Entlastungsökologie geleistet werden. "Bildung zur nachhaltigen Entwicklung" ist umfassender als Umweltbildung und fordert die ganze Gesellschaft, weil sie als lebenslanger Prozeß mit dem Ziel aufzufassen ist, jedem das Beziehungsgeflecht zwischen Wirtschaft -Gesellschaft - Umwelt und dessen Vernetztheit bewußt zu machen, um entscheidungs- und handlungsfähig zu werden und Herausforderungen begegnen zu können. Im Mittelpunkt stehen dabei: Werteorientierung, Verant-wortungsethik, Respekt für kulturelle Diversität sowie die Verpflichtung, sich für Frieden und Demokratie einzusetzen. Somit kommt "Bildung zur nachhaltigen Entwicklung" vor Eintritt in das 21. Jahrhundert und den damit verbundenen Herausforderungen hohe Priorität zu. Alle Fächer und ihre Curricula müssen daraufhin ausgerichtet werden; mit einer bloßen 'Umwandlung' von Umwelterziehung in 'Bildung zur nachhaltigen Entwicklung' ist es also nicht getan. Eine wachsende Zahl von Staaten billigt inzwischen Bildung einen hohen Stellenwert bei der Lösung gegenwärtiger und zukünftiger Probleme zu. In der Agenda 21 wird allein der Begriff "Education and training" 617 mal verwandt, nur "government" erscheint noch häufiger. Im Rückblick auf die 5 Jahre nach Rio (1992) ist auch die Erkenntnis gewachsen, daß es noch intensiverer Bildungsanstrengungen bedarf und daß Bildung für die Umsetzung aller Kapitel der Agenda 21 unerläßlich ist. Allerdings machte sich diesbezüglich auf der Sondergeneralver-sammlung der UN Kommission für nachhaltige Entwicklung (CSD) eine gewisse Ernüchte-rung breit, als die Bilanz vorlag. Nahezu alle Teilnehmerstaaten hatten ein country profile erstellt, in dem sie über jedes der 40 Kapitel Rechenschaft ablegten. Zum Kapitel 36 "Förde-rung der Schulbildung, des öffentlichen Bewußtseins und der beruflichen Aus- und Fortbil-dung" hat z.B. Deutschland u.a. dargelegt (verantwortlich: BMU [Umwelt]) und das BMZ [Wirtschaftliche Zusammenarbeit]):"In the area of education, school curricula have been re-viewed and revised to address adequately environment and development as a cross cutting issue at primary, secondary school, college and university levels and in vocational schools." Die Diskrepanz zwischen dieser Feststellung und der Realität ist enorm.
Wenn beispielsweise in Geographielehrplänen für die Sek. I und Sek. II ökologische,
ökonomische und soziale Fragen lediglich addiert, aber nicht gleichzeitig und
gleichgewichtig "zusammengesehen" werden, kann man nicht von Bildung zur
nachhaltigen Entwicklung sprechen. Dazu gehört auch, diese Dimensionen als integrale
Bezugspunkte des Nachhaltigkeitsdreiecks zu gewichten und als wertebezogene Lernziele in
den Lehrplänen zu berücksichtigen. |
Generell gesehen, haben alle Staaten große Schwierigkeiten, die
Prinzipien von Umwelterziehung/Umweltbildung sowie von Bildung zur Nachhaltigkeit
angemessen umzusetzen bzw. Wege aufzuzeigen, wie die Diskrepanzen zwischen Zielsetzungen,
Lehrplan und Unterricht abzubauen sind. Noch 1992 stellte die Europäische Kommission
fest, daß im Bereich der Umwelterziehung die Untersuchung der Umwelt sich überwiegend
auf die natürlichen Lebensräume beschränke, die Zukunft der Umwelt einseitig
dargestellt werde, sowie unklare Zielsetzungen vorherrschten, die zu widersprüchlichen
Aktionen führen könnten und daß alles zu theoretisch konzipiert sei. In einer
Bestandsaufnahme des OECD-Projekts "Umwelt und Schulinitiativen" (ENSI) aus dem
selben Jahre wurde als Defizit insbesondere die fehlende Verknüpfung zwischen Wirtschaft
und Umwelt in allen europäischen Lehrplänen festgestellt. Grundsätzlich hat sich nichts geändert. Die bisherigen Fortschritte beschränken sich auf die 'basic school curricula' und auf Verbreitung von Unterrichtsmaterialien. Forschungsergebnisse werden nach wie vor nur mangelhaft durch Pädagogik-Institutionen rezeptiert. Die Ursachen hierfür sieht man in der fehlenden Erfahrung mit transnationalen Entwicklungen und der Didaktikforschung. Vor diesem Hintergrund hat das 'Europäische Grüne Forum', eine am 5.6.1997 von der Kommission eingesetzte Konsultativgruppe (European Consultative Forum on the Environment and Sustainable Development), u.a. gefordert, das Bewußtsein und die Kommunikation hinsichtlich Sustainability in der Öffentlichkeit zu verbessern. Die Lücke zwischen Wissenschaft und Unterricht macht es offensichtlich schwierig, die Inhalte einer 'Bildung zur nachhaltigen Entwicklung' festzulegen, da diese sich auf Informationen gründen müssen, die exakt, aktuell, unvoreingenommen und fächerübergreifend sind. Diese Art Information benötigt jedoch länger, um aus den akademischen Zirkeln hin zum Nichtspezialisten zu gelangen. Auf nationaler Ebene gab es zwar eine Reihe von Veranstaltungen der Deutschen Gesellschaft für Umwelterziehung e.V. (z.B. Iserlohn, Schwerin), doch fehlte es immer an der konkreten Umsetzung. Es kommt hinzu, daß die Integration dieser Aspekte zur Nachhaltigkeit in das Bildungssystem durch Planer, Lehrer und Verwaltungsexperten behindert wird, die weder mit der interdisziplinären Vorgehensweise im allgemeinen noch mit den Problemen von Umwelt und Entwicklung im besonderen vertraut sind. Die Schlußfolgerung des UNO-Berichts (Overall Progress Achieved since the United Nations Conference on Environment and Development, Report of the Secretary-General, Addendum: Promoting Education, Public Awareness and Training [Chapter 36 of Agenda 21 E/CN.17/-1997/ 2/Add. 26], 22. January 1997) laufen deshalb darauf hinaus, das Bildungssystem, einschließlich der Lehreraus- und -weiterbildung, von Grund auf zu reformieren. Wegen der allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Status quo erfährt Umwelterziehung in Deutschland zur Zeit eine sehr kritische Würdigung, die deutlich macht, daß die Schulen angesichts der zu erwartenden Probleme in neuer Verantwortung stehen und Umwelterziehung daher neu definiert werden muß. Man fordert neue Themen und Vermittlungsformen. Es stehen nicht nur einzelne Inhalte, sondern auch überkommene Werte und übergreifende Strukturen zur Disposition. Wissen sei zwar wichtig, weitere Dimensionen wie Gefühle, Handlungskompetenz und Wertvorstellungen müssen hinzutreten, damit es zu umweltbewußtem Verhalten und Handeln kommt. Die Diskussion, wie dieses Leitbild im Bildungsbereich zu vermitteln sei, setzte in Deutschland erst etwa ab 1995 ein. Die Ursachen für die verzögerte Umsetzung lassen sich nicht allein mit dem föderativen Bildungssystem erklären. Ungleich stärker fallen die allgemeinen Rahmenbedingungen ins Gewicht. In einer Studie des Verbandes Deutscher Schulgeographen e.V. (Umwelterziehung und nachhaltige Entwicklung; Bestandsaufnahme, Umsetzungsmöglichkeiten und Wege, März 1997), die vor der UN- Sondergeneralversammlung allen Schlüsselministerien und Kultusministerien zugegangen ist, wurde an Verpflichtungen erinnert, die sich aus der Agenda 21 zur Umsetzung des Prinzips Nachhaltigkeit im Bildungsbereich ergeben und um Auskünfte gebeten, inwieweit dies auf Landesebene geschehen ist, (z.B. durch Überarbeitung der Lehrpläne). Darüber hinaus wurde auf Entwicklungen in anderen Ländern verwiesen, die dem bereits verstärkt Rechnung getragen haben (u.a. USA, Japan, Australien, Dänemark, Österreich und Finnland) sowie ein Modell vorgestellt, das die Implementation des Prinzips Nachhaltigkeit in Lehrpläne ermöglicht. Das Bundeskanzleramt und das Bildungsministerium begrüßten in ihren Stellungnahmen, daß der Verband als einer der ersten Fachverbände die Debatte nach Rio/92 und der Agenda 21 konstruktiv für den schulischen Bereich aufgegriffen haben. Auch Niedersachsen, Hamburg und Bremen brachten das zum Ausdruck. Die Studie wird als hilfreich angesehen, "Vollzugsdefizite" (Niedersachsen, Bremen) werden insofern eingeräumt, als man die Agenda 21 und die damit verbundenen Verpflichtungen z.B. im Bildungsbereich erst mit einiger Verspätung zur Kenntnis genommen hat. |
Der Erwerb von Zukunftsfähigkeit durch Bildung erfordert nicht allein
hohe finanzielle Aufwendungen. Auch Staaten mit geringeren Aufwendungen verfügen über
Reformkompetenz und können ihren Schülerinnen und Schülern das "neue Denken"
vermitteln. Hier sei auf die aufsehenerregende TIMSS-Studie verwiesen, die eine
international vergleichende Untersuchung über die Mathematikkenntnisse von Schülern der
achten Klasse vorstellt . Deutsche Schülerinnen und Schüler belegten darin den 22.
Platz. Deutschland liegt mit seinen öffentlichen Ausgaben für Bildung in Prozent des BIP seit 1980 unter 5%, die Niederlande, Schweden und die übrigen skandinavischen Länder bei über 5%. Was jedoch die Ausgaben je Schüler angeht (expenditure per student relative to GDP per capita - all levels of education ,1994), so liegt Deutschland im Mittelfeld (30%), nur Österreich, Kanada, Schweden und die USA haben höhere Aufwendungen, Japan (24%) und die Niederlande (22%) liegen hinter Deutschland. Bei den Ausgaben pro Schüler der Sek. II (bezogen auf die Kaufkraft) lag Deutschland 1994 sogar mit 6.160 US $ vor Schweden (5.500), Japan (4.580) und den Niederlanden (4.060) (OECD-Database). Dies macht deutlich, daß es andere als finanzielle Gründe geben muß, die für den Erwerb von Zukunftsfähigkeit bestimmend sind, denn die Niederlande und Japan haben mit geringerem Aufwand mehr erreicht. Das Zurückliegen Deutschlands auf dem Bildungssektor gründet sich u.a.
auf mangelnde Kreativität und Innovationsbereitschaft sowie Vorbehalten gegen Impulse von
außen.
Diese Selbstbezogenheit macht sich besonders in der fehlenden Wahrnehmung internationaler Entwicklungen bemerkbar. |
Umsetzungsmöglichkeiten des Leitbilds "nachhaltige Entwicklung" in Lehrplänen
Zur Umsetzung des Leitbilds 'Nachhaltigkeit' gehört, ausgehend von der
Gesamtvernetzung von Ökologie, Ökonomie und sozialer Gerechtigkeit (Gesellschaft), auch
die raum-zeitliche Dimension, nämlich 'Nachhaltigkeit' interregional bzw. global und
intergenerativ zu sehen (Krol). Dies gilt ebenso für die schulische Bildung, z. B. bei
der Erstellung von Lehrplänen, die verstärkt verantwortliche und werteorientierte
Entscheidungen ermöglichen sollen. Deshalb sind bei der Vermittlung von Umwelterziehung
und 'Bildung zur Nachhaltigkeit' (1) neben der geoökologischen Thematik und Problematik die kulturräumliche und ökonomische in ihren wechselseitigen Zusammenhängen zu behandeln: Prinzip Vernetztheit und systemisches Denken, (2) die Prinzipien der Nachhaltigkeit, die Balance von Ökonomie und
Ökologie und die Problematisierung der technisch-ökonomischen Machbarkeit besonders zu
beachten sowie Dieter Gross: Fachreferent für Umweltbildung und Sustainable Development im VERBAND DEUTSCHER SCHULGEOGRAPHEN E.V. |